V. Czáka: Histoire sociale et genrée de l’éducation physique en Suisse romande

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Titel
Histoire sociale et genrée de l’éducation physique en Suisse romande. (milieu du XIXe siècle-début du XXe siècle)


Autor(en)
Czáka, Véronique
Erschienen
Neuchâtel 2021: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
616 S.
von
Yvonne Schüpbach

Die Schweizer Sportgeschichte und insbesondere eine geschlechtertheoretische Analyse ebendieser sind bisher wenig bearbeitete Felder. In den letzten zehn Jahren änderte sich zumindest Ersteres im Zuge grosser SNF-Forschungsprojekte zunehmend.

Véronique Czáka untersucht in ihrer nun als Buch vorliegenden Lausanner Dissertation die Geschichte des Turnunterrichts in den Kantonen Freiburg, Waadt, Neuenburg und Genf im 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts. Aus sozial- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive interessiert sich die Autorin für die Überschneidungen von Klasse, Geschlecht, Alter und Konfession und leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einer intersektionalen Sportgeschichte.

Das Schulfach «Turnen» ist ein Sonderfall in der Geschichte der Schweizer Schulbildung. Obwohl in der Schweiz die Bildung in den Zuständigkeitsbereich der Kantone fällt, legt der Bund beim Turn- und Sportunterricht seit 1874 die wesentlichen Rahmenbedingungen fest. Zunächst stand er im Zusammenhang mit dem militärischen Vorunterricht nur Schülern offen. Bis zur Vereinheitlichung mit dem schweizerischen Sportfördergesetz von 1972, bildeten sich in den Kantonen jedoch eine Vielzahl unterschiedlichster Praktiken heraus, wie der Turn- und Sportunterricht vor Ort umgesetzt wurde.

Czáka will die Mechanismen und Realitäten in Bezug auf Turnunterricht historisieren. Um dies zu erreichen, beleuchtet sie den Aufbau, die schulische Integration und die Demokratisierung des Sportunterrichts, die geschlechtsspezifischen und auch materiellen Herausforderungen sowie die Professionalisierung der Fachlehrer:innen. Sie interessiert sich insbesondere dafür, ob der Sportunterricht für alle Menschen gleich war und wer ihn auf lokaler, kantonaler oder nationaler Ebene fördert. Dazu werden 84 Biografien von relevanten Akteur:innen genauer unter die Lupe genommen. Czáka kann auf einen breitgefächerten Quellenkorpus mit Akten aus den Archiven des Militärdepartements und des Departements des Inneren, Publikationen zu Turnunterricht, statistische Daten sowie Beständen verschiedenster lokaler und kantonaler Archive zurückgreifen.

In der (Schweizer) Sportgeschichtsschreibung taucht Geschlecht häufig nur in Untersuchungen zum Sport der Frauen auf. Diese Tendenz zeigt sich sowohl in der Auswahl der Untersuchungsgegenstände als auch in den Ergebnissen und Veröffentlichungen. Czáka bricht mit dieser häufigen Praxis, was sich in ihren Ausführungen zur Vergeschlechtlichung von Sport im Allgemeinen und Turnunterricht im Spezifischen zeigt. Hier ist hervorzuheben, dass die Autorin als eine der ersten in der Schweizer Sportgeschichte mit der Geschlechtertheorie der US-amerikanischen Biologin und Geschlechterforscherin Anne-Fausto Sterling arbeitet. Gemäss Fausto-Sterling sind sex (biologisches Geschlecht) und gender (soziales Geschlecht) nicht voneinander zu trennen. Sie bilden sich als zwei Seiten einer Münze gegenseitig und sind beide nicht «natürlich», insofern, dass es keinen objektiven Zugriff auf sie gibt. Die wichtigste Arbeitshypothese dieser Studie besteht sicherlich darin, dass Ziele und Methoden des Turnunterrichts von Jungen und Mädchen nicht ohne Bezug auf das jeweils andere Geschlecht verstanden werden können, weil im Verständnis der Autorin die Kategorien «Männer» und «Frauen» durch Opposition zueinander konstruiert werden.

Das erste Kapitel sticht heraus, weil es stark chronologisch aufgebaut ist und geografisch über die Romandie hinaus geht. Es beschäftigt sich mit der Konkretisierung von Körperübungen für die Jugend vom Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei allen weiteren Kapiteln handelt es sich um thematische Untersuchungen. Im zweiten Kapitel untersucht Czáka die Zusammenhänge zwischen militärischem Vorunterricht und Sportunterricht für Jungen. Der Prozess zur Schaffung von Sportunterricht für Mädchen ist Thema im dritten Kapitel. Der Diskurs rund um Körperpflege und Gesundheit für Kinder sowie die Hindernisse bei der Konkretisierung des Turnunterrichts werden im vierten Kapitel thematisiert. Im fünften Kapitel werden die Praktiken im Zusammenhang mit Hygiene, Schwimmen und anderen Aktivitäten durchleuchtet. Im sechsten Kapitel widmet sich Czáka der Entwicklung der Ausbildung von Grundschullehrpersonen und Turnlehrpersonen. Ein Fokus auf die Vergeschlechtlichung des Turnunterrichts wird im siebten Kapitel möglich, in welchem Czáka die Mechanismen zur (Re)produktion von Geschlecht im Rahmen des Sportunterrichts identifiziert. Die Studie wird schliesslich mit dem achten Kapitel abgerundet, in welchem Czáka auf die materiellen Seiten des Sportunterrichts (Räume und Infrastruktur) zu sprechen kommt.

Für die Geschichte des Schulfachs «Sport/Turnen» schlussfolgert die Autorin, dass dessen Etablierung und Professionalisierung nicht nur von Geschlecht, Klasse und Niveau der Schulbildung abhingen, sondern auch vom jeweiligen städtischen oder ländlichen Umfeld. Während das Schulturnen der Jungen in militärisch konnotierten Praktiken gründe, sei das Schulturnen für Mädchen in hygienischen und medizinischen Diskursen verwurzelt. Der Autorin gelingt es, divergierende und widersprüchliche Geschlechterimaginationen quellennah herauszuarbeiten und damit die Vergeschlechtlichung von Turnunterricht einerseits und dessen Instrumentalisierung für die Reproduktion geschlechtergetrennter Arbeits- und Rollenverteilung in der Gesellschaft andererseits aufzuzeigen. Diese Zielsetzungen verortet Czáka nicht nur in hygienisch und eugenischen Diskursen, sondern auch im Wunsch nach Disziplinierung der Arbeiterklasse.

Die Studie liefert in beeindruckender Weise eine vielschichtige Sozial- und Geschlechtergeschichte des Turnunterrichts, welche in einem breitgefächerten Quellenkorpus gründet. Damit bietet sie zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Erforschung der Geschlechter- und Sportgeschichte sowie der Turngeschichte der restlichen Schweiz und darüber hinaus.

Zitierweise:
Schüpbach, Yvonne: Rezension zu: Czáka, Véronique: Histoire sociale et genrée de l’éducation physique en Suisse romande (milieu du XIXe siècle-début du XXe siècle), Neuchâtel Alphil, 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(3), 2023, S. 406-408. Online: https://doi.org/10.24894/2296-6013.00134.